Albrecht Ulmer, Stuttgart
Behandlung der
Alkoholabhängigkeit in der Praxis
Alkoholabhängigkeit ist eine der großen Volkskrankheiten.
Sie ist etwa 10-mal so häufig wie die Heroinabhängigkeit, dennoch gibt es nicht
mal 0,1-mal so viele Ärzte, die sich ähnlich darauf spezialisiert haben wie
substituierende Ärzte auf die Behandlung der Heroinabhängigkeit. Hintergrund
der absolut defizitären medizinischen Versorgung von Alkoholabhängigen sind
fehlende Standardisierung und Honorierung spezialisierter Leistungen,
abschreckende Regelungen bei der Substitution und jede Menge Schwierigkeiten
mit diesen weithin ungeliebten Patienten. Von der eigenen Insuffizienz
ablenkend, begegnen viele Mediziner den Patienten mit einer diskriminierenden
wie falschen „Selber-Schuld“-Haltung, die auch in der Gesellschaft weit
verbreitet ist. Die Patienten bleiben mit der schweren, chronischen Krankheit
medizinisch allein gelassen – eine wesentliche Grundlage für die vielen
schlechten Verläufe, die hohe Belastung von Krankenhäusern durch diese
Krankheit und die enormen volkswirtschaftlichen Kosten, die in Deutschland auf
ca. 27 Milliarden Euro/Jahr geschätzt werden (Jahrbuch Sucht 2013).
QAAT ein neues Netzwerk
Abbildung 1: Typische Sprechstunde mit einem alkoholabhängigen Patienten. Er hält sein Buchfüh-rungsheft in der Hand, in dem die Eintragungen mit denen der Arztkarteikarte übereinstimmen.
Rein fachlich sind Insuffizienz und mangelnde Entwicklung der Behandlung von Alkoholabhängigen nicht begründet. Schon jetzt wissen wir, dass wir die Krankheit viel besser behandeln können als es fast überall geschieht. Wie bei allen chronischen Krankheiten muss das Gros der Behandlung ambulant geschehen. Um das zu verbessern, haben wir dieses Jahr in der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) das Netzwerk „Qualifizierte ambulante Alkoholabhängigkeitsbehandlung“ (QAAT) gegründet.
Ambulante Entzüge
Ebenfalls wie bei vielen anderen chronischen Krankheiten gliedert sich die Behandlung in die Behandlung akuter Exazerbationen und eine chronische Dauer- oder Basisbehandlung. Für Akutbehandlungen sind qualifizierte ambulante Entzüge unverzichtbar, aber viel zu selten angeboten. Die Notwendigkeit stationärer Entzüge lässt sich damit auf weniger als 10% der schwer Betroffenen senken. Selbstverständlich ist das auch ein wesentlicher Beitrag dazu, Patienten überhaupt und deutlich früher behandeln zu können.
Die Basisbehandlung
Die eigentliche Kunst beginnt aber erst nach dem Entzug. Mit Medikamenten und einem interdisziplinär zugewandten Ansatz lassen sich Verlauf und Prognose deutlich verbessern.
Antagonisten
Das gilt schon für die zugelassenen, wenig pharmazeutische Innovation repräsentierenden Substanzen Disulfiram, Acamprosat, Naltrexon und Nalmefen. Diese Substanzen sind oft ein guter Einstieg: Relativ wenig Gefahren, keine Abhängigkeit – in vielen Fällen entsteht eine qualifizierte, vertrauensvolle Beziehung als wichtige Basis, um die mit der Suchtkrankheit verbundenen Probleme einer qualifizierten Bearbeitung zuzuleiten. Qualifizierte Suchtmedizin ist immer Teil einer Netzstruktur, und macht auch nur so wirklich Freude. Allerdings haben diese antagonistischen Substanzen einen so geringen Effekt, dass sie sich in der Praxis wenig durchgesetzt haben. Ob es Nalmefen anders ergehen wird, bleibt abzuwarten. Ein ärztliches Spezialistentum haben die Substanzen bisher nicht begründet. Disulfiram verliert nach Marktrücknahme in Deutschland in Kürze seine Verkehrsfähigkeit.
Agonisten
Suchtmedizin und Infektiologie
Zwischen Infektiologie und Suchtmedizin bestehen enge Verknüpfungen. Suchtkrankheiten können zu schweren Infektionen führen, z.B. Drogenabhän-gigkeit zu HIV-Infektionen oder Hepatitis C. Für einige HIV-Schwerpunktärzte ist daraus ein zweiter, suchtmedizinischer Schwerpunkt erwachsen, zunächst überwiegend für Drogenabhängige. Bei denen kann man eine HIV-Infektion kaum behandeln, wenn die Suchtkrankheit nicht auch behandelt wird. Eigent-lich sollte die Suchtkrankheit genauso gut wie die Infektionskrankheit behan-delt werden. Aber beide Fächer haben sich seit ihrer Entstehung in den 80er Jahren völlig unterschiedlich entwickelt. Mittlerweile gibt es gegen die HIV-In-fektion zahlreiche sehr effektive Medikamente und auch eine angemessene Honorierung für die behandelnden Ärzte.
In der Suchtmedizin wurden dagegen in den letzten Jahrzehnten praktisch keine innovativen Substanzen von der Industrie eingeführt. Die Substitutions-behandlung für Drogenabhängige - heute Standard - greift auf alteingeführte Substanzen zurück. Sie musste von Praktikern gegen den Widerstand sucht-medizinischer Wissenschaftler erstritten werden. Ständige Richtungsstreite, große Diskrepanzen zwischen möglichem und tatsächlichem Standard, ein Übermaß an abschreckenden Regelungen und ständig harte Verurteilung substituierender Ärzte wegen Regelverstößen prägen das Fachgebiet so, dass einer Generation überwiegend idealistisch angetretener Ärzte kaum noch neue Ärzte folgen. Dabei ist Suchtmedizin ein Fach der Zukunft: Die Möglichkeiten, Betroffenen zu einem normalen Leben zu verhelfen, lassen sich ähnlich revo-lutionär verbessern wir in der Infektiologie. Wo wir spezialisiert sind, sehen wir das schon heute.
Ungleich wirksamer erscheinen nach Praxisberichten und
vorwiegend italienischen Studien agonistische Sub-
stanzen, die den Betroffenen einen Teil der erstrebten Wirkung des Alkohols
geben, ohne vergleichbar zu schaden.
Die wichtigsten, bisher bekannten sind :
- GHB (Gamma-Hydroxybuttersäure, ein GABA A erger Agonist), bisher zur Basisbehandlung praktisch nur in Italien eingesetzt, in Österreich auch zum Alkoholentzug, in Deutschland nur zur Behandlung von Narkolepsie verfügbar, ansonsten als Suchtmittel („liquid ecstasy“) oder als „K.O.-Tropfen“ international sehr umstrittenen (Caputo 2011)
- Dihydrocodein (DHC), in dieser Indikation nur von einzelnen, niedergelassenen, deutschen Suchtmedizinern eingesetzt (Ulmer 2012)
- weitere Opioide, insbesondere in Einzelfällen
- Buprenorphin Clomethiazol, mit therapeutischer Systematik m.W. nur in unserer Praxis eingesetzt.
Wegen des Potentials, davon abhängig zu werden, und hohen Gefahren bei fal-schem Gebrauch begegnen Ansätze mit diesen Substanzen, die auch in unserem Praxiserleben bei weitem am effektivsten sind, überwiegendem Misstrauen, ja regelrechter Verbannung in Fachwelt und Gesellschaft. Ihre Entwicklung stagniert. Die Forschung macht bisher weitgehend einen Bogen darum. Zugelassen in dieser Indikation ist bisher keine dieser Substanzen, auch nicht die folgende:
Baclofen
Eine wichtige Mittelstellung zwischen diesen als zu
gefährlich eingestuften Agonisten und den relativ wirkarmen Antagonisten
scheint Baclofen zuzukommen. Selbst ein GABA B erger Agonist vermittelt es
leichte Entspannung und leichte Anxiolyse, die sich bei vielen
Alkoholabhängigen praktisch ohne eigenes Abhängigkeitspotential suchtmindernd
auswirken. Wie bei den meisten wirksamen Substanzen gibt es erhebliche
individuelle Unterschiede. Teilweise berichten die Betroffenen anhaltend von
einer völligen Auslöschung des Verlangens nach Alkohol. Sie erleben den
Behandlungserfolg als heilungsähnlich. Populär wurde dieser Effekt durch den
2005 publizierten Selbstversuch des Kardiologen Ameisen, der sich mit bis zu
270 mg/d behandelte.
Abbildung 2: Suchtverlaufsdiagramm einer Patientin mit 36 Jahren Alkoholabhängigkeit, 60 stationären Entzügen, 3 Entwöhnungstherapien. Beginn der Aufzeichnung Jahr 28 der Abhängigkeit. Inzwischen unter Behandlung mit DHC, die ersten 14 Monate auch mit 1 Kps. Clomethiazol abends, seit >2 J rückfallfrei.
Schon seit dem Jahr 2000 liegt zu Baclofen gegen Alkoholabhängigkeit eine Reihe von Publikationen aus der italienischen Arbeitsgruppe Addolorato, Caputo, Colombo et al. vor. Alle Arbeiten dieser Arbeitsgruppe zeigen, dass schon bei 30 mg/d deutlich lindernde und teils heilungsähnliche Effekte gegenüber der Alkoholabhängigkeit möglich sind. Diese Befunde sind inzwischen in unzähligen Publikationen bestätigt, teils mit Hinweisen, dass, wie bei Ameisen, individuell deutlich höhere Dosierungen für diese Effekte nötig sind. Der Informationsstand ist nicht einheitlich. Es gibt auch Studien, die keinen Unterschied gegenüber Placebo ergaben (z. B. Carbutt et al. 2010). Kollegen der italienischen Arbeitsgruppe haben mir am Rande von Konferenzen mitgeteilt, dass sie GHB deutlich mehr schätzten als Baclofen. Mir geht es mit DHC ähnlich. So umfassend, wie wir dessen Wirkung immer wieder erleben, habe ich noch bei keinem unserer bisher 11 Baclofen-Patienten (Dosierungen bis 300mg) eine durchgreifende Wirkung erlebt. DHC ist allerdings bei der ungeregelten Behandlung von Opiatabhängigen mit einer Reihe von Todesfällen einhergegangen (Penning et al. 1993). Eine vergleichbare Gefahr ist von Baclofen nicht berichtet. Andererseits sind inzwischen so viele beeindruckende Ergebnisse publiziert, dass man der Forderung von C. Weigel, diese wichtige Substanz Alkoholabhängigen nicht länger vorzuenthalten, nur ausdrücklich beipflichten kann, insbesondere angesichts der Schwere des Krankheitsbildes und der geringen Risiken der Substanz. Frau Weigel unterstrich diese Forderung 2011 auf einem Poster beim DGS-Kongress mit einer Auswertung bei 69 Patienten, die Baclofen länger als 3 Monate eingenommen hatten: 69,2% hatten dann einen unbedenklichen Alkoholkonsum nach WHO-Kriterien, mehr als 55% völlige Abstinenz erreicht, ähnlich viele gaben das Verschwinden jeglichen Alkoholcravings an. 93,9% berichteten Angstfreiheit unter Baclofen, und 96,9% äußerten sich mit der Wirkung von Baclofen zufrieden (Weigel 2012).
Angesichts dieser und weiterer ähnlicher Publikationen stellt sich die Frage, ob das Zur-Verfügung-Stellen wichtiger Medikamente, Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gerade bei Erkrankungen mit so wenigen effektiven Therapieoptionen wie der Alkoholabhängigkeit nicht zu viele, hohe Hürden überwinden muss.
Literatur
1. Addolorato G, Caputo F, Capristo E, Colombo G, Gessa GL, Gasbarrini G: Ability of baclofen in reducing alcohol craving and intake: II--Preliminary clinical evidence. Alcohol Clin Exp Res. (2000) 24/1, 67-71
2. Addolorato G, Mirijello A, Leggio L, Ferrulli A, Landolfi R: Management of Alcohol Dependence in Patients with Liver Disease. CNS Drugs. (2013) Mar 1. [Epub ahead of print]
3. Ameisen O: Complete and prolonged suppression of symptoms and consequences of alcohol-dependence using high-dose baclofen: a self-case report of a physician. Alcohol Alcohol. (2005) 40/2, 147-50. Epub 2004 Dec 13
4. Caputo F: γ-Hydroxybutyrate (GHB) for the Treatment of Alcohol Dependence: a Call for Further Understanding. Alcohol Alcohol. (2011) 46/1, 3
5. Colombo G, Agabio R, Carai MA, Lobina C, Pani M, Reali R, Addolorato G, Gessa GL: Ability of baclofen in reducing alcohol intake and withdrawal severity: I--Preclinical evidence. Alcohol Clin Exp Res. (2000) 24/1, 58-66
6. Penning R, Fromm E, Betz P, Kauert G, Drasch G, v. Meyer L: Drogentodesfälle durch dihydrocodeinhaltige Ersatzmittel. Deutsches Ärzteblatt 90 (1993) 528-9.
7. Garbutt JC, Kampov-Polevoy AB, Gallop R, Kalka-Juhl L, Flannery BA: Efficacy and safety of baclofen for alcohol dependence: a randomized, double-blind, placebo-controlled trial. Alcohol Clin Exp Res. (2010) 34(11), 1849-57
8. Ulmer A, Müller M, Frietsch B: Dihydrocodeine / agonists for alcohol dependents. Frontiers in Psychiatry / Addict. Dis (2012) 3, 21, 1-7
9. Weigel C, Kreuzeder FJ, Fischer R, Bödeker RH: Medikamentengestützte Behandlung der Alkoholerkrankung mit Baclofen. Poster beim Jahreskongress der DGS 11/2012 u. Suchttherapie (2012) 13/11, A19